Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Ungarn: Im Südosten nichts Neues

14. Januar 2011
Wolfgang Klotz

Nach den ungarischen Erdrutschwahlen vom April 2010 schrieb der Schriftsteller Péter Nádas einen Text mit dem Titel „Der Stand der Dinge“. Er wirft darin einen niederschmetternden Blick auf die Transformationsprozesse, die sein Land seit dem Ende des Kommunismus durchlaufen hat. Seine Vergleichsparameter bezieht er dabei aus der Entwicklung der anderen Staaten „Mitteleuropas“ – und als spielte er in einem negativen Wettbewerb um die „worst policy“ der letzten 20 Jahre, reklamiert er die unumstrittene Siegerkrone für Ungarn.

Nicht ganz so eindeutig würde das Urteil ausfallen, wenn auch die südosteuropäischen Staaten in diesem Wettbewerb mitspielen dürften. Die „Aufweichungen“, die den ungarischen Kommunismus der Kádár-Zeit im Vergleich zum polnischen oder tschechoslowakischen angeblich mit einem bescheidenen Laissez-faire ausgestattet hatten, interpretiert Nádas im Rückblick als ein „System der Schattenwirtschaft“, wie es derart umfassend keine andere Gesellschaft des sozialistischen Blocks ausgezeichnet habe. Deshalb sei auch die Privatisierung in Ungarn nach 1990 praktisch vollständig in die Hände derer gefallen, die als Akteure dieser alten Schattenwirtschaft auf ein die gesamte Volkswirtschaft umfassendes Informationsmonopol zurückgreifen konnten. Jeder Informationsvorsprung bedeutet in der Phase der Privatisierung einen Vorteil im Zugriff auf die wirtschaftlichen Potentiale.

Die Schattenwirtschaft funktionierte inmitten der Planwirtschaft nach kapitalistischen Regeln. Es versteht sich dabei von selbst, dass dieses kapitalistische Element keine sozialen Standards und Verantwortlichkeiten kannte. Es war, nach Nádas, „die unregulierte Version, die dem Familien- und Stammesegoismus folgt und nach einer autoritären Struktur der Gesellschaft verlangt.“ Die Schattenwirtschaft war per se ideologiefrei, sie war allein pragmatisch im Interesse der privaten und partikularen Egoismen.

Péter Nádas’ literarisches Werk kann als die denkbar feinsinnigste Analyse und Beschreibung einer Tradition gelesen werden, die man gemeinhin als das „europäische Bürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts“ bezeichnet; besser: als die detailbesessene Suche nach seinen Spuren in einer Zeit, als es bereits im Verschwinden begriffen war. Die Erwartung, dass am Ende des vergangenen Jahrhunderts und als Ergebnis der Transformation ein solches Bürgertum wieder erstehen würde, eine soziale Schicht, die im Interesse von Gemeinsinn, aus Verantwortlichkeit für das Ganze der Gesellschaft und für ihre Konsensfähigkeit handeln würde, diese Erwartung musste sich als eine grandiose Naivität herausstellen. Was stattdessen unter dem Label der freien Marktwirtschaft an den Tag trat, war die aus ihrer früheren Heimlichkeit an die Macht gekommene Schattenwirtschaft. Als das perfekte Abbild ihres früheren, unterirdischen Schattendaseins in der neuen, privatisierten Öffentlichkeit erwies sich: die Korruption.

Auch die Korruption ist ideologiefrei, sie konnte sich daher mit beinahe jeder politischen Partei zu gedeihlicher Kooperation verbünden, was sie auch tat. Denn sie braucht, so schreibt Nádas, solche Bündnisse, um ihre gegen das Gemeinwohl erkämpften Erfolge und Besitztümer abzusichern. Sie kann sich zwar – aus ihrer früheren Zeit – immer noch auf Netzwerke stützen, in die auch Polizei, Geheimdienste und Justiz verwickelt sind. Aber dies wird zum einen nicht ausreichen, zum anderen verlangt die neue Zeit doch nach anderen, „demokratischeren“ Formen der Absicherung von Macht. Daher bedarf es einer Politik, die den Prozess der korrupten Aneignung von wirtschaftlicher Macht mit einem „Theater der staatlichen Fürsorglichkeit“ begleitet.

„Bereits im Augenblick der Wende war klar, daß die dritte Republik zwischen Fürsorgestaat und autoritärer Ständeherrschaft, den Traditionswelten der Kádar-Zeit und der Horthy-Zeit pendeln wird. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sie sich für keine von beiden entscheiden können“, so Péter Nádas. Die Schwingungen des Pendels entsprechen den demokratisch wechselnden Machtverhältnissen der letzten beiden Jahrzehnte. Die beiden Traditionswelten entsprechen den beiden großen Parteien, der Sozialistischen Partei und der Fidész von Viktor Orbán.

Weil die Postmoderne aber auch um Ungarn keinen Bogen gemacht hat, können Kádárs und Horthys „Welten“ heute nur noch als fadenscheinige politische Inszenierungen aufgeführt werden, letztere in der Gestalt des rechten Populismus, erstere in einer verlogenen linken Rhetorik von den „kleinen Leuten“. Dabei ist das Arsenal an Kulissen und Kostümen für die populistische Inszenierung weitaus umfangreicher als für ein Theater der sozialen Fürsorge bei mehr als leeren öffentlichen Kassen. Aus diesem Dilemma der ungleichen Waffen ergab sich 2006 der verzweifelte Versuch des früheren sozialistischen Ministerpräsidenten Gyurcsány, mit einer ehrlichen Rede über die allgemeine Lüge neues Terrain zu gewinnen.

Die von Nádas geschilderte, durch und durch korrupte Transformation war bereits in Orbáns erster Regierungszeit in vollem Gange. Damals wurde die Besänftigung und Zustimmung des Volkes in erster Linie mit dem nationalen Ticket eingefahren. In einem Akt der grandiosen Selbstüberschätzung sollte die Fürsorge des Staates vor allem den Brüdern und Schwestern in der ungarischen Post-Trianon-Diaspora gelten. Der „Ungarische Ausweis“ (Magyar Igazolvány) berechtigte sie zur Einreise nach Ungarn, zur Arbeit daselbst und gewährte Zugang zur medizinischen Versorgung in Ungarn.

Dies machte durchaus Sinn für viele Ungarn in der serbischen Vojvodina, die in der Zeit nach der Zerstörung von Vukovar nicht wissen konnten, ob etwa ein Vojislav Šešely seine privaten Milizen auch gegen Novi Sad schicken würde. Aber zugleich scherte Ungarn mit dieser Politik aus dem mitteleuropäischen Geleitzug aus und setzte das Land auf eine Schiene mit den südosteuropäischen Nachbarn: wie Serbien an der Schlacht auf dem Amselfeld litt Ungarn von nun an unter Trianon als der Mutter (und zugleich als der Erklärung) aller Übel. Auf den Märkten Budapests konnte man das Ungarn in den Grenzen vor 1918 als Puzzle, als Brettspiel, als Gebäck kaufen, und selbst die traditionellen gebratenen Leberwurstkringel konnten mitunter in den historischen Umrissen des Landes verzehrt werden.

Nádas vergleicht die ungarische Transformation mit der polnischen, tschechischen oder slowakischen. Er entdeckt ihr Spezifikum in dem unvergleichlich höheren Anteil der Schattenwirtschaft, deren Akteure den Prozess der Privatisierung zu ihren privaten Gunsten und mit Mitteln der Korruption umleiteten. Wenn diese These zutrifft, dann beschreibt sie doch kein Alleinstellungsmerkmal, sondern eine Gemeinsamkeit mit den südlichen Nachbarn, die aus dem Zerfall Jugoslawiens hervorgegangen sind.

Ein zweiter ungarischer Intellektueller, der Philosoph Tamás Gáspár Miklós schrieb dieser Tage zum ungarischen Mediengesetz einen Artikel für die taz. Er beginnt diesen Text mit einer vorbeugenden Richtigstellung: die Leser und Leserinnen mögen bitte sein Eintreten für die Freiheit der Medien nicht dahingehend missverstehen, dass er ein Liberaler sei. Er möchte nicht als jemand erscheinen, „der glaubt, dass die liberale Demokratie in ihrer europäischen Ausprägung des 21. Jahrhunderts eine politische Ordnung ist, die unreformiert am Leben erhalten werden sollte.“ Diese europäische liberale Demokratie ist ihm vielmehr nach 20 Jahren ungarischer Transformation eine Ansammlung von „Chaos, Armut, Korruption, Kriecherei, Bestechlichkeit, Schacher, Verachtung der Unterschichten, Ungleichheit und Heuchelei“. T. G. Miklós besteht darauf, ein Linker Philosoph zu sein – wenngleich ein in der verbliebenen Parteienlandschaft gänzlich heimatloser.

Derweil sitzt ein früherer kroatischer Ministerpräsident wegen Korruptionsvorwürfen in österreichischer Auslieferungshaft. In Montenegro tritt Ministerpräsident Djukanovic nach 20 Jahren Herrschaft nach dem Muster eines „aufgeklärten Putinismus“ vom Amt zurück. Beobachter munkeln, es sei an der Zeit gewesen, weil der EU-Beitrittsprozess nun auch dort langsam die Aufarbeitung der organisierten Kriminalität verlange. Zugleich veröffentlicht der Europarat den Bericht eines Sachverständigen, der den gerade neu gewählten Ministerpräsidenten und andere Regierungsmitglieder des Kosovo der elf Jahre zurückliegenden Mittäterschaft bei systematischen Tötungen zum Zweck des Organhandels verdächtigt. In Serbien, wo die nach ungarischem Muster verlaufende Privatisierung noch nicht einmal an ihr Ende gekommen ist, versucht Präsident Tadic zur Abwechslung einen neuen, populären Diskurs der moralischen Anklage gegen die Tycoons, die das Volk ausbeuten. Weil aber zugleich sein Moskauer Kollege Putin, von dem wir diesen Diskurs zur Genüge kennen, ein manipuliertes Gerichtsurteil gegen seinen Widersacher Chodorkowski in Auftrag gibt, wissen wir nicht wirklich, was wir davon halten sollen.

Alles was T. G. Miklós als eine ungarische Ansammlung von „Chaos, Armut,…“ beschreibt, kann ungeschmälert für viele südliche Nachbarländer übernommen werden. Unterm Strich geht es um einen Typus der Ausübung von politischer und wirtschaftlicher Macht unter der Maske einer entweder bereits vollzogenen oder angestrebten Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Wegen Europa bedarf diese Machtausübung des Anscheins von Demokratie. Daher wird Viktor Orbán nicht müde, jede seiner Entscheidungen seit dem Machtantritt im Mai 2010 als einen unmittelbaren Ausdruck des Volkswillens darzustellen, der ihm die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament bescherte. Um diesen Anschein von Demokratie herbei zu führen und zu wahren, gibt es nur ein zuverlässiges Instrument: die Macht über die Medien.

Im Augenblick mag die Politik in diesen Ländern noch nicht ganz auf den traditionellen Provider von „Opium für das Volk“ verzichten. Für eine Weile wird auch die Religion noch von Nutzen sein und ein Kirchenbesuch vor laufenden Kameras steht jedem Präsidenten allemal gut zu Gesicht. Wir wollen uns nicht anmaßen, die Ernsthaftigkeit der katholischen Konversion des früheren kommunistischen Jugendsekretärs Orbán in Zweifel zu ziehen. Konvertiten sind sie allesamt. Aber es bleibt doch ein unabweisbarer Zweifel an der allzu deutlich zur Schau gestellten neuen Frömmigkeit. Und es bleibt die Frage, ob die Politik auch dann noch auf den Segen der Kirchen wird rechnen können, wenn diese all ihre einst enteigneten Besitztümer wieder in Händen halten. Auch das ist ja ein Teil im Spiel der Privatisierung.

Wenn im heutigen Ungarn die Einschaltquoten von RTL die des staatlichen Fernsehens um das Doppelte übertreffen, und wenn der Genuss von Tutti-Frutti bei RTL allemal prägender ist als die Sonntagspredigt gegen „sexuelle Verirrungen“, dann ist nur noch auf die Medien für die Politik wirklicher Verlass. Wer sie kontrolliert, darf der nächsten Wahl entspannt entgegensehen. Hier lässt der Spiegel (Nr. 1/2011, S. 85) eine weitere ungarisch-südosteuropäische Gemeinsamkeit ins Auge fallen: „Ungarns Medienlandschaft im Jahr 2001 ist geprägt von RTL, ProSieben und Sat.1, von Ringier, dem Springer-Verlag und der WAZ-Gruppe. Protest gegen Orbán und sein Mediengesetz blieb aus dieser Richtung bisher aus – ein erschütterndes Signal aus dem Lager westlicher Wertgemeinschaft.“ Solchen Protest zu erwarten wäre so grandios naiv wie die von Nádas zitierte, schüchterne Hoffnung auf ein rettendes Bürgertum. Warum?

Der Hauptpunkt der kroatischen Korruptionsklage gegen den früheren Ministerpräsidenten Sanader betrifft Vorgänge, in die ein Werbe-Unternehmen verwickelt ist. Der engste Berater des serbischen Präsidenten ist ein Werbeunternehmer, dessen Bedeutung auf dem Markt nur übertroffen wird von den PR-Agenturen, die sich im Privatbesitz des Belgrader Bürgermeisters befinden. Das lässt sich mit Figuren aus der bosnischen und der bulgarischen Szene von Wirtschaft, Medien und Politik fortsetzen. Im Dreieck dieser drei – Wirtschaft, Politik, Medien – ist die Werbung die Verbindung zwischen Wirtschaft und Medien, so wie die Parteienfinanzierung die Verbindung zwischen Wirtschaft und Politik darstellt. Die Besitzverhältnisse an den ungarischen Medien sind ein Resultat der Privatisierung. Sie waren daher immer schon ideologiefrei, und die Verteidigung der westlichen Wertegemeinschaft spielte höchstens dann eine Rolle, wenn für den Erwerb eines Verlages die Inanspruchnahme verbilligter europäischer Förderkredite legitimiert werden sollte.

Außerhalb Ungarns funktioniert die politische Kontrolle der Medien noch weitgehend dadurch, dass die Wirtschaft – wenn nötig auf freundliche Bitte der Politik – mit dem Entzug von Werbeeinnahmen droht. In Ungarn scheint dieser Zugriff nicht mehr hinreichend zu funktionieren, so dass eine Kontrolle per Gesetz und monopolistisch besetzter Kontrollorgane notwendig wurde. Nur Zyniker würden behaupten: das lässt hoffen!

Wolfgang Klotz ist Leiter des Regionalbüros Südosteuropa der Heinrich-Böll-Stiftung in Belgrad.



Dieser Text steht unter einer Creative Commons Lizenz (CC-BY-SA) und darf unter den folgenden Bedingungen weiterverwendet werden.